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Demente alte Menschen brauchen
ein Lebensumfeld, das zu ihnen passt – Deshalb soll in Bamberg
eine Wohngemeinschaft für Menschen, die an Demenz erkrankt sind,
gegründet werden – Die † im Gespräch mit den Initiatorinnen
Silke Kastner und Anja Münzel
Frau B. spricht nicht mehr, sie kann nicht sagen,
was sie will oder nicht will, und sie kann kaum auf Äußerungen
anderer reagieren – aber sie singt, die Lieder aus ihrer
Kindheit, und das mit Inbrunst. Herr W. erkennt niemand mehr, aber
er lacht jeden freundlich an und drückt auch jedem die Hand,
bevorzugt setzt er sich die Brillen anderer Leute auf die Nase,
obwohl er damit bestimmt nicht besser sieht. Frau L. sitzt ratlos
vor einem Glas Wasser und weiß nichts damit anzufangen – sie
hat einfach vergessen, wie das geht: trinken. Herr M. weigert
sich, das Badezimmer mit den dunklen Bodenfliesen zu betreten, sie
stellen für ihn eine Bedrohung dar – aber wenn man einen
Teppich darüber legt, dann geht’s.
Silke Kastner
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Demenz zeigt sich bei jedem Menschen anders
– das weiß die 35-jährige Krankenschwester und
Altenpflegerin Silke Kastner. Und deshalb muss ihrer Ansicht
nach auch jeder demente Mensch besonders und wie ein
Individuum behandelt werden. Dass das in Pflegeheimen meist
nicht möglich ist, diese Erfahrung hat sie selbst gemacht,
als sie in einer beschützenden Einrichtung für demente
alte Menschen arbeitete. "Die alten Leute werden
versorgt, aber es ist keine Zeit da, um auf ihre besonderen
Bedürfnisse einzugehen – in einem so großen Heim ist das
einfach nicht möglich." |
Ein würdiges Leben im Alter stellt Silke Kastner
sich anders vor, und hat in Anja Münzel, selbst Krankenschwester
und Sozialpädagogin, eine Mitstreiterin gefunden. Zusammen mit
einer dritten Kollegin, Manuela Distler, wollen sie in Bamberg
eine Demenz-WG gründen, die alten Menschen mit Demenz mehr als
Unterbringung bietet – sie soll ein richtiges Zuhause sein.
Der Begriff "Demenz-WG", der sich ein
bisschen wie eine Kabarett-Pointe anhört, ist ebenso wörtlich
wie ernst gemeint: Demenz-WGs gibt es mittlerweile überall in
Deutschland. Mehr als 100 davon allein in Berlin, allerdings noch
recht wenige in Bayern. Ganz wie in einer richtigen
Wohngemeinschaft tun sich hier mehrere Menschen zusammen, die
gemeinsam in einer Wohnung leben. Sie teilen sich Küche und Bad,
jeder hat sein eigenes Zimmer mit eigener Einrichtung, man bezahlt
gemeinsam die Miete, und am Klingelschild stehen die Namen von
allen WG-BewohnerInnen.
Die Demenz-WG ist allerdings rund um die Uhr
betreut: Mindestens eine Altenpflege-Fachkraft und eine
Hilfskraft sind tagsüber da, nachts hält eine
Betreuungsperson die Stellung, unterstützt von einem
jederzeit abrufbaren Notdienst. Denn in der Demenz-WG leben
BewohnerInnen, die Hilfe brauchen, um ihr Leben zu meistern.
Man muss sie aufs Klo führen, weil sie es von selbst
vielleicht nicht finden. Man muss ihnen die Gabel in die
Hand drücken und sie immer wieder zum Essen auffordern. Und
man muss ein bisschen auf sie aufpassen, denn wenn sie die
Wohnung allein verlassen, verlaufen sie sich und finden
nicht mehr zurück. |
Anja Münzel
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Doch in einer kleinen Lebensgemeinschaft von 6 bis
10 BewohnerInnen kann man anders mit den Menschen umgehen als in
einer großen Heimeinrichtung. Davon sind Silke Kastner und Anja
Münzel überzeugt, und haben das bei vielen Besuchen in
Demenz-WGs in anderen Städten auch so erlebt. "Die Menschen
haben so viel Potenzial – das glaubt man gar nicht", sagt
Silke Kastner. "Wenn eine alte Frau früher ihr Leben lang
für die Familie gekocht hat, dann wird sie sich auch mit Demenz
noch gerne in der Küche betätigen, Kartoffeln schälen, Gemüse
putzen oder spülen." In einer WG werden diese individuellen
Fähigkeiten erhalten und auch genutzt. "Hier kann jeder
einzelne am Alltag teilhaben und mitmachen, wo er kann und
will", bestätigt Anja Münzel. Wer gerne Wäsche
zusammenlegt, kann das tun – wenn er möchte, dasselbe Stück 20
mal. Wer gerne kehrt, hält den Fußboden sauber. Und wer gerne
täglich nur Mensch-ärgere-dich-nicht spielt, der macht eben das.
"Der Vorteil an einer solchen WG ist",
meint Anja Münzel, "dass es möglich ist, auf alle
individuell einzugehen. Wer schon immer morgens gerne lange
geschlafen hat, kann dies auch hier tun und muss sich nicht danach
richten, dass die Zentralküche Frühstück eben nur zwischen 8
und 9 Uhr erlaubt." Auf diese Weise würden die Menschen viel
zufriedener – und das macht auch das Zusammenleben untereinander
wieder leichter. Untersuchungen haben ergeben, dass in Demenz-WGs
weniger Psychopharmaka verabreicht würden und weniger Aggression
entstehe.
Wichtig ist laut Silke Kastner die
Biographie-Arbeit: "Erinnerungen, Gewohnheiten und
Fähigkeiten aus der Vergangenheit sind bei dementen Menschen
vorhanden und müssen aktiviert werden, damit sie ein glückliches
Leben führen können." Hier kommen dann auch die
Angehörigen ins Spiel. Je mehr man über das frühere Leben der
Menschen weiß – über Alltag, Hobbys, Beruf, Lebensgewohnheiten
– desto mehr kann man ihnen auch in der WG ein Zuhause bereiten,
in dem sie gerne leben.
Doch wie ist so eine Demenz-WG konkret
organisiert? Da demente Menschen in der Regel nicht mehr
geschäftsfähig sind, müssen ihre Angehörigen bzw. eine
Betreuungsperson dies für sie übernehmen. Sie mieten die Wohnung
und regeln die Geschäfte – vom Telefonanschluss bis zu den
Heizkosten. Sie erarbeiten gemeinsam eine Hausordnung für die
Wohnung, entscheiden darüber, wer neu in die Wohnung aufgenommen
wird, lösen kleinere Probleme, wie es sie in WGs nun mal gibt,
oder planen gemeinsame Aktivitäten wie Feste und Ausflüge.
Meist, so schildert Anja Münzel, die ihre Diplom-Arbeit über
Wohnformen im Alter geschrieben hat, wird dazu ein Verein
gegründet, der von den Angehörigen und weiteren Unterstützern
getragen wird.
Für die alltägliche Betreuung der BewohnerInnen
wird von der WG bzw. dem Verein ein gemeinsamer Pflegedienst
beauftragt. Dabei sollten die Präsenzkräfte, also die dauernd
anwesenden, möglichst gleichbleibende Personen sein. Für
weitergehende Pflegemaßnahmen, wie Verbände-Anlegen, Spritzen
usw. kommt – je nach Bedarf der einzelnen BewohnerInnen – ein
zusätzlicher ambulanter Dienst ins Haus.
Gezahlt werden die Pflegeleistungen über die
Pflegeversicherung, je nach Einstufung der einzelnen
BewohnerInnen, oder über die Krankenkasse. "Billiger als
eine Heimunterbringung ist eine solche WG nicht", betont
Kastner, um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen.
"Aber die Qualität ist eine andere – individueller und
menschlicher."
Die Nähe zu den Angehörigen sei eine wesentliche
Säule von Demenz-WGs, unterstreichen die beiden Initiatorinnen.
Die Familien der BewohnerInnen tragen von Anfang an alle
Entscheidungen. "Eine WG ist eine Entlastung für die
Familie, weil sie einerseits die oft nervenaufreibende
Dauerbelastung der Pflege zuhause nicht tragen muss, andererseits
aber weitestmöglich Einfluss auf den Alltag des dementen
Angehörigen nehmen und sich auch jederzeit einbringen und in der
WG mithelfen kann."
Dass der Bedarf nach einer Demenz-WG in Bamberg
vorhanden ist, da sind sich Silke Kastner und Anja Münzel sicher.
Und sie glauben auch, bald weitere engagierte MitstreiterInnen zu
finden, die sich bei einer Vereinsgründung einbringen – und
natürlich Familien mit dementen Angehörigen, die in einer WG
eine lebenswerte und für sie passende Wohnform sehen.
Text/Fotos: sys
Kontakt über Silke Kastner: Tel.: 0951/290392,
mail: taksim@t-online.de
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