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Schöne neue Arbeitswelt

In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit machen die Ausbeutung von Arbeitnehmern und der Missbrauch öffentlicher Zuschüsse Schule – Ein Beispiel aus Bamberg

 

Sonntag, zwei Uhr am frühen Morgen: Der Kraftfahrer Bert Heumann sinkt ins Bett. Seit Mittwoch, kurz vor Mitternacht, war er unterwegs. Mehrere Stunden am Stück schlafen konnte er seitdem nur ein einziges Mal.

Angesagt war eigentlich eine ganz normale Tour: von Kirchaich im Steigerwald nach Wirges, ca. 100 km nordwestlich von Frankfurt am Main. Reine Routine. Doch dann klingelt auf der Rückfahrt das Handy, das ihn nach Frankfurt umdirigiert. Bei einer japanischen Firma sind sieben Paletten mit "Playstation 2" abzuholen und nach Mailand zu bringen. Es vergehen einige Stunden, ehe er die neue, kostbare Fracht einladen darf. Doch die erweist sich als zu schwer für seinen Lkw. Weisung aus Bamberg: "Alles aufladen – das Auto verträgt das!". Bei Regen und später, in Österreich, bei dichtem Schneetreiben, geht es Richtung Brenner. Zwischendurch Kontrolle durch die österreichische Gendarmerie, der die Überlast nicht verborgen bleibt. Abladen und Zwischenlagern des Übergewichts. Rund 600 e Strafen und Gebühren muss Heumann aus eigener Tasche vorstrecken. Am Freitagmorgen, Heumann hat seit mehr als 24 Stunden so gut wie gar nicht geschlafen, kann er endlich seine Ladung in Mailand abliefern. Schon auf dem Weg zurück, bekommt er wieder neue Order: Ziel ist ein Weingut in der Nähe von Venedig, wo er fünf Paletten Wein abholen soll. Immerhin: Dort genießt Heumann eine Nacht ungestörten Schlafes. Schließlich geht es mit neuer Ladung zurück nach Bamberg.

Bert Heumann, immer allein am Steuer seines 7,5-Tonners, hat dabei über weite Strecken ein überladenes Fahrzeug gelenkt und die erlaubten Lenkzeiten erheblich überschritten – alles im Auftrag des Bamberger Logistik-Unternehmers Jochen Knickrig.

Kein Urlaub – Mehrarbeit umsonst

Was klingt wie ein Schauermärchen* oder das Drehbuch zu einem Fernfahrer-Krimi, ist eine Szene aus der deutschen Arbeitswelt. Ganz real. Wohl (noch?) nicht repräsentativ. Aber vieles spricht dafür, dass dieser Ausschnitt aus dem Arbeitsalltag von Bert Heumann "Schule machen" könnte. Denn Bert Heumann ist Langzeitarbeitsloser. Er war froh, wieder einmal einen "ordentlich" sozialversicherten Job zu haben. Und das Fahren an sich, das weitgehend selbständige Arbeiten, das ihn nach Ungarn, in die Slowakei, nach England, Frankreich und Italien führte, machte ihm – wie er betont – sogar Spaß. Nur so ist es wohl zu erklären, dass er fast anderthalb Jahre für den besagten Unternehmer tätig war.

Der "Spaß" endete allerdings im September 2003 abrupt: mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch Jochen Knickrig. Heumann hatte nämlich etwas Unerhörtes getan: Er hatte schriftlich und in aller Form seinen Arbeitgeber aufgefordert, endlich seine zahlreichen Überstunden zu bezahlen und ihm den zustehenden Urlaub zu gewähren oder zumindest zu entgelten.

Dabei hätte Heumann gewarnt sein müssen: Bereits knapp zwei Wochen nach Arbeitsantritt hatte ihn ein Kollege gefragt: "Bist du auch ein Langzeitarbeitsloser? Solche holt sich der Knickrig nämlich immer. Pass bloß auf: die lässt er schuften wie blöd. Überstunden noch und nöcher. Und Urlaub kannst vergessen."

Tatsächlich scheint der Fuhrunternehmer, der in Bamberg auch eine Tankstelle betreibt und Taxis fahren lässt, in unschöner Regelmäßigkeit Langzeitarbeitslose einzustellen (und wieder zu feuern!). Für die bekommt er nämlich von der Bundesagentur für Arbeit satte Zuschüsse. Und Heumann erfüllt gleich zwei Voraussetzungen, damit sein Arbeitgeber die so genannten Eingliederungszuschüsse (für bis zu 24 Monate!) einstreichen kann. Er ist langzeitarbeitslos und über 50 Jahre alt.

All das wusste Heumann jedoch nicht. Davon erfuhr er erst, als er von der Agentur nach den Kündigungsgründen gefragt wurde. Angegeben hatte der Unternehmer nämlich, Heumann sei gekündigt worden, weil er u.a. bei Kunden Hausverbot erhalten habe und in tätliche Auseinandersetzungen verwickelt gewesen sei. Der Hintergrund für diese abstrusen Vorwürfe: Wenn ein Unternehmer von der Arbeitsagentur bezuschusste Beschäftigte kündigt, muss er befürchten, die Zuschüsse zurückzahlen zu müssen. Knickrig wollte das mit seinen Falschangaben offensichtlich vermeiden. Dass sie falsch waren, macht die Reaktion der Arbeitsagentur deutlich: Sie akzeptierte Heumanns Darstellung und sprach keinerlei Sperrzeit für seinen Bezug von Arbeitslosengeldes aus. Interessant auch, dass der Ex-Arbeitgeber den gefeuerten und ach so unzuverlässigen Heumann gut vier Wochen nach der Kündigung wieder für eine Fahrt nach Bratislava engagierte, weil Not am Mann war.

Falsche Angaben

Falsche Angaben – das schreckliche Wort "Lügen" wollen wir vermeiden – scheinen ohnehin zum Alltag dieses Unternehmers zu gehören. Stichwort "Lenkzeiten". Die Vorschriften sind eindeutig: Viereinhalb Stunden fahren, dann 45 Minuten Pause, dann noch einmal viereinhalb Stunden am Steuer, dann 10 Stunden Pause. Zwei mal pro Woche erlauben die gesetzlichen Regelungen einen Rhythmus von je fünf Stunden Lenkzeit mit einstündiger Pause dazwischen. Um all dies kontrollieren zu können, gibt es die bekannten Fahrtenschreiber in jedem Lkw, die nicht nur den jeweiligen Arbeitstag dokumentieren, sondern auch die Tage zuvor.

Wie Bert Heumann berichtet, gab es in der Firma des Herrn Knickrig jedoch nie solche "Tage zuvor". Die Fahrer führten immer – natürlich unwahre – (Blanko-)Bescheinigungen mit sich, dass sie entweder in den Tagen zuvor erkrankt, innerbetrieblich nicht als Fahrer eingesetzt oder beurlaubt waren. Die Folge: Knickrigs Fahrer sind immer "frisch", ihnen ist immer erlaubt, das gesetzliche Maximum zu fahren. Heumann besitzt noch heute einen ganzen Stapel dieser Bescheinigungen.

Immer auf Abruf

Fast hätten wir es vergessen: Lohn bekam Bert Heumann auch. 1534 e brutto. Dafür musste er laut Arbeitsvertrag 50 Stunden in der Woche arbeiten. Die Verpflegung während der Fahrten hatte er selbst zu bezahlen. Spesen hierfür oder für die Abwesenheit vom Standort Bamberg: Fehlanzeige. Stattdessen erwartete man von Heumann eine nahezu ständige Verfügbarkeit. Er musste immer auf "gepackten Koffern" sitzen. Denn wenn während seiner Rufbereitschaft (tagsüber: ständig) ein Anruf kam und einen Auftrag ankündigte, dann musste die Abfahrt spätestens ein bis zwei Stunden später erfolgen. Auf Fahrten über Nacht war an ein Schlafen in regulären Quartieren nicht zu denken. Der Autositz musste dafür ausreichen.

Urlaub bekam der Arbeitnehmer Heumann im Jahr 2002 keinen einzigen Tag. Sein Arbeitgeber hatte ihm aber zugesagt, dass er dennoch nicht verfalle. Als Heumann auf dieses Versprechen zurückkam, beschied ihm Knickrig lapidar: "Den Urlaub hätt’st halt einklag’n müss’n vorm 31. März. Jetzt isser verfall’n." So arbeitete Heumann im 2. Halbjahr 2002 ganze 306 Stunden mehr als vertraglich vereinbart (also mehr als sechs volle Arbeitswochen!), im Jahr 2003 waren es bis zu seiner Kündigung 317,5 Stunden. Überstunden sollten in auftragsschwachen Zeiten "abgefeiert" werden, was aber nie in vollem Umfang möglich war. Wohl nicht zufällig stand deshalb in Heumanns Arbeitsvertrag die Klausel: "Anfallende Überstunden sind mit dem Bruttogehalt abgegolten." Respekt: Da war der Unternehmer Knickrig schon 2002 so weit wie jene Teile der Unionsparteien heute, die für das Recht der Unternehmer eintreten, ihren Angestellten unentgeltlich Mehrarbeit aufzubürden.

Wiedersehen vor Gericht

Ob dieser Vorgriff auf die schöne neue Arbeitswelt nach Art der Unionschristen, Unternehmerverbände und Neoliberalen jedweder Couleur bereits in der heutigen Bundesrepublik Bestand haben darf, wird sich vor dem Arbeitsgericht in Bamberg herausstellen. Dort sehen sich Bert Heumann und sein ehemaliger Arbeitgeber wieder. Mit Unterstützung des DGB will Heumann nämlich die ihm zustehende Überstundenvergütung und den ihm vorenthaltenen Urlaub von Jochen Knickrig einklagen. Die gaz wird berichten.

 

* Der Artikel gibt einen authentischen Fall wieder. Alle Namen wurden verändert.