"Das Vertrauen schrumpft zusehends"
Wahlkampf - Der grüne Bundesvorsitzende
Reinhard Bütikofer fordert in der Brauerei Spezial eine soziale
Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Der "neoliberale
Kurs" der letzten Jahre habe sich als zerstörerischer Irrweg
erwiesen.
VON FT-REDAKTIONSMITGLIED Michael Wehner
Bamberg - Es war ein langer Tag für Reinhard
Bütikofer, den Bundesvorsitzenden der Grünen. Als er am Donnerstag
Abend gegen 20 Uhr in der Bamberger Brauerei Spezial vor rund 100
Anhängern und Neugierigen über grüne Wirtschaftspolitik zu reden
begann, da hatte er bereits fünf Termine absolviert, sprach u.a. in
Bad Neustadt und Haßfurt. Seine Stimme klang heiser, aber sie war
immer noch kraftvoll genug, um einen ganzen Saal ohne Mikrophon mit
seinen Ideen einer neuen Wirtschaftspolitik zu fesseln. "Der
Glaube der Menschen, dass es in unserem Land gerecht zugeht, ist
ausgehöhlt, das Vertrauen in den Ausgleich schrumpft zusehends. Wir
müssen die soziale Frage neu buchstabieren", sagte der grüne
Vordenker unter dem Beifall der Zuhörer.
Bütikofer hat nach seiner Wahl zum grünen
Bundesgeschäftsführer 1998 das Grundsatzprogramm von Bündnis
90/Die Grünen geprägt und durchgesetzt. Als Wahlkampfreisender
tritt er für eine Politik ein, die sich realistisch ökologisch
nennt, eine "linke Mitte", wie er selbst formuliert hat.
Seine Thesen über eine Abkehr vom "neoliberalen Kurs" der
letzten Jahre wurden im Bamberger Vorwahlkampf mit offenen Ohren
aufgenommen. Voll intellektueller Leidenschaft plädierte er für
die Einführung von sozialen Standards in einer außer Kontrolle
geratenen Wirtschaft, deren Handeln "soziale Erosion" und
damit hohe Folgekosten produziere.
Zwar ist der Fall Nokia weit weg, doch auch in
Bamberg trennten sich Staat und Stadt in den vergangenen Jahren von
vielen Aufgaben, die lange zur Daseinsvorsorge zählten und der
demokratischen Kontrolle unterlagen, wie GAL-Stadtrat Peter Gack
hervorhob. "Nur noch 44 Prozent der Gelder, die von der Stadt
Bamberg bewegt werden, stehen unter der Hoheit des Stadtrats",
kritisierte der wirtschaftspolitische Sprecher der GAL-Fraktion.
Über den größeren Rest entscheiden Aufsichtsräte in nicht
öffentlichen Sitzungen. Und schon werde überlegt, ob nach den
Stadtwerken und dem Klinikum auch der Entsorgungs- und Baubetrieb
ausgegliedert werden soll.
Die Konsequenzen seien, so Gack, immer die gleichen:
Die demokratische Kontrolle wird ausgehebelt, die Beschäftigten
werden in neue Gesellschaften transferiert, die unter Tarif
bezahlen. Häufig muss dann die öffentliche Hand auch noch die
Folgekosten für Dumpinglöhne übernehmen.
Doch die Zeichen stehen auf Abkehr vom neoliberalen
Gedankengut, jener "einseitigen Wirtschaftspolitik, die seit
Anfang der 90er Jahre die soziale Marktwirtschaft mehr und mehr
ausgehöhlt hat", wie Bütikofer meinte. Schon gebe es Städte,
die aus der Hand gegebene Aufgaben wieder zurückholten, weil es
für sie letztlich günstiger sei. "Es war ein Fehler zu
glauben, je weniger Staat desto besser", rief Bütikofer im
"Spezi". "Wir brauchen eine Renaissance staatlicher
Handlungsfähigkeit, weil ohne staatliche Ziele der Marktprozess
zerstörerisch wird und die Stabilität unseres Landes
gefährdet." Dabei wolle man nicht die Kreativität des Marktes
blockieren, sondern sie in die richtige Richtung lenken.
Die Hoffnung der Grünen auf eine Wende beruht auf
der Erkenntnis, dass wirtschaftliches und soziales Handeln letztlich
kein Widerspruch sind: "Es zweifelt auch keiner mehr daran,
dass ökologische Standards Bedingung für den wirtschaftlichen
Erfolg eines Unternehmens sind." Nach diesem Vorbild fordert
Bütikofer eine "aufgeklärte Ordnungspolitik", die den
Rahmen auch für den sozialen Ausgleich der Gesellschaft setzt.
Für die Grün-Alternativen werden die anstehenden
Kommunalwahlen und mehr noch die bayerischen Landtagswahlen im
Herbst ein wichtiger Stimmungstest sein. Eine der offenen Fragen ist
nicht nur, mit welchem Spitzenduo die Grünen in die Bundestagswahl
2009 gehen; auch die Suche nach einem zentralen Wahlkampfthema
bewegt derzeit den Bundesvorstand. In Bamberg hat Bütiokofer den
Puls der Zeit offenbar getroffen: Er bekam in einer lebhaften
Diskussion viel Zustimmung.
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