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FT-Artkel vom 17. Februar 2008

"Das Vertrauen schrumpft zusehends"

Wahlkampf - Der grüne Bundesvorsitzende Reinhard Bütikofer fordert in der Brauerei Spezial eine soziale Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Der "neoliberale Kurs" der letzten Jahre habe sich als zerstörerischer Irrweg erwiesen.

VON FT-REDAKTIONSMITGLIED Michael Wehner

 

Bamberg - Es war ein langer Tag für Reinhard Bütikofer, den Bundesvorsitzenden der Grünen. Als er am Donnerstag Abend gegen 20 Uhr in der Bamberger Brauerei Spezial vor rund 100 Anhängern und Neugierigen über grüne Wirtschaftspolitik zu reden begann, da hatte er bereits fünf Termine absolviert, sprach u.a. in Bad Neustadt und Haßfurt. Seine Stimme klang heiser, aber sie war immer noch kraftvoll genug, um einen ganzen Saal ohne Mikrophon mit seinen Ideen einer neuen Wirtschaftspolitik zu fesseln. "Der Glaube der Menschen, dass es in unserem Land gerecht zugeht, ist ausgehöhlt, das Vertrauen in den Ausgleich schrumpft zusehends. Wir müssen die soziale Frage neu buchstabieren", sagte der grüne Vordenker unter dem Beifall der Zuhörer.

Bütikofer hat nach seiner Wahl zum grünen Bundesgeschäftsführer 1998 das Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen geprägt und durchgesetzt. Als Wahlkampfreisender tritt er für eine Politik ein, die sich realistisch ökologisch nennt, eine "linke Mitte", wie er selbst formuliert hat. Seine Thesen über eine Abkehr vom "neoliberalen Kurs" der letzten Jahre wurden im Bamberger Vorwahlkampf mit offenen Ohren aufgenommen. Voll intellektueller Leidenschaft plädierte er für die Einführung von sozialen Standards in einer außer Kontrolle geratenen Wirtschaft, deren Handeln "soziale Erosion" und damit hohe Folgekosten produziere.

Zwar ist der Fall Nokia weit weg, doch auch in Bamberg trennten sich Staat und Stadt in den vergangenen Jahren von vielen Aufgaben, die lange zur Daseinsvorsorge zählten und der demokratischen Kontrolle unterlagen, wie GAL-Stadtrat Peter Gack hervorhob. "Nur noch 44 Prozent der Gelder, die von der Stadt Bamberg bewegt werden, stehen unter der Hoheit des Stadtrats", kritisierte der wirtschaftspolitische Sprecher der GAL-Fraktion. Über den größeren Rest entscheiden Aufsichtsräte in nicht öffentlichen Sitzungen. Und schon werde überlegt, ob nach den Stadtwerken und dem Klinikum auch der Entsorgungs- und Baubetrieb ausgegliedert werden soll.

Die Konsequenzen seien, so Gack, immer die gleichen: Die demokratische Kontrolle wird ausgehebelt, die Beschäftigten werden in neue Gesellschaften transferiert, die unter Tarif bezahlen. Häufig muss dann die öffentliche Hand auch noch die Folgekosten für Dumpinglöhne übernehmen.

Doch die Zeichen stehen auf Abkehr vom neoliberalen Gedankengut, jener "einseitigen Wirtschaftspolitik, die seit Anfang der 90er Jahre die soziale Marktwirtschaft mehr und mehr ausgehöhlt hat", wie Bütikofer meinte. Schon gebe es Städte, die aus der Hand gegebene Aufgaben wieder zurückholten, weil es für sie letztlich günstiger sei. "Es war ein Fehler zu glauben, je weniger Staat desto besser", rief Bütikofer im "Spezi". "Wir brauchen eine Renaissance staatlicher Handlungsfähigkeit, weil ohne staatliche Ziele der Marktprozess zerstörerisch wird und die Stabilität unseres Landes gefährdet." Dabei wolle man nicht die Kreativität des Marktes blockieren, sondern sie in die richtige Richtung lenken.

Die Hoffnung der Grünen auf eine Wende beruht auf der Erkenntnis, dass wirtschaftliches und soziales Handeln letztlich kein Widerspruch sind: "Es zweifelt auch keiner mehr daran, dass ökologische Standards Bedingung für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens sind." Nach diesem Vorbild fordert Bütikofer eine "aufgeklärte Ordnungspolitik", die den Rahmen auch für den sozialen Ausgleich der Gesellschaft setzt.

Für die Grün-Alternativen werden die anstehenden Kommunalwahlen und mehr noch die bayerischen Landtagswahlen im Herbst ein wichtiger Stimmungstest sein. Eine der offenen Fragen ist nicht nur, mit welchem Spitzenduo die Grünen in die Bundestagswahl 2009 gehen; auch die Suche nach einem zentralen Wahlkampfthema bewegt derzeit den Bundesvorstand. In Bamberg hat Bütiokofer den Puls der Zeit offenbar getroffen: Er bekam in einer lebhaften Diskussion viel Zustimmung.