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Pressemitteilung vom 9. Juli 2002

"Kinder und Eltern müssen funktionieren!"

Diskussionsplenum über Ursachen, Folgen und Prävention nach Erfurt

 

Im Rahmen eines Fachgesprächs diskutierten Prof. Dr. Detlef Berg, Professor für pädagogische Psychologie, Petra Münzel, MdL Bündnis 90/Die Grünen, und Heinz Jung, stellvertretender Vorsitzender der GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) in Oberfranken über die Frage, welche Schlüsse man aus den Ereignissen von Erfurt ziehen müsse.

In einem einleitenden Vortrag zeigte Prof. Berg mögliche Ursachen der Tat von Erfurt auf. Im Zentrum stand dabei vor allem die Frage, wodurch die in einem solchen "Amoklauf" hevorbrechende Verzweiflung hervorgerufen werden könne. Prof. Berg machte deutlich, dass eine einseitige Erklärung, wie sie in zahlreichen Medien vorgebracht wurde, nicht hilfreich sei, die tiefer liegenden Ursachen aufzudecken. So könne neben der Erfahrung von Ungerechtigkeit eine Vielzahl von weiteren Ursachen denkbar sein, etwa das Fehlen von Zukunftsperspektiven oder Probleme in der Erziehung in Familie und Schule. Entscheidend sei es daher, diesen jungen Menschen Bewältigungsstrategien zu vermitteln, vor allem aber das Gefühl von Selbstachtung. So müsse einer allzu leistungsorientierten Sichtweise von Schule entgegen getreten werden. Es sei eben nicht so, dass "der Mensch erst ab dem Gymnasium beginne". Eltern sollten sich von dem zwanghaften Denken lösen, "die eigenen Kinder müssten, wie man auch selbst, um jeden Preis funktionieren."

Auch sei es Aufgabe von Eltern und Lehrern, eine "positive Vorbildwirkung" entwickeln. "Wenn man die Berichterstattung nach Erfurt betrachtet, muss man sich fragen, ob Nachahmungstätern hier nicht ein negatives Vorbild vermittelt wird. Wenn sie denken, dass sie durch eine solche Tat endlich ihre Probleme einer breiten Öffentlichkeit aufzeigen können, ist der nächste Schritt absehbar!", so Berg.

Petra Münzel ergänzte diese psychologische Herangehensweise durch einen Blick auf die politische und gesellschaftliche Situation, in der Jugendliche heranwüchsen. So erführen viele junge Menschen in Gesellschaft und Schule einen Mangel an Bestätigung und Unterstützung. Für "Sitzenbleiber" etwa werde viel zu wenig getan. "Sie bleiben mit ihren Problemen häufig alleine", so Münzel.

Heinz Jung ergänzte, dass in unserer Gesellschaft diese fehlende Kommunikation eine wensentliche Ursache für Probleme sei. "Wenn das Lehrer-Eltern-Verhältnis über ein Fünf-Minuten-Gespräch im Jahr nicht hinausgeht, dann sei eine Lösung möglicher Probleme des jungen Menschen durch gemeinsame Anstrengungen von allen Seiten nicht denkbar.", so Jung. Doch dafür benötige man Zeit, zusätzliche Qualifizierungen auf Seiten der Lehrkräfte, Förderlehrer und Erzieher.

Im weiteren Gespräch wurde deutlich, dass die Ganztagesschule eine Möglichkeit biete, Jugendliche, die zu wenig Ansprache hätten, besser zu betreuen und Defizite früher zu erkennen. Schweden und Finnland hätten gezeigt, dass ein solches Schulsystem mögliche Probleme Jugendlicher bereits deutlich früher wahrnehmen könne und zudem durch besondere Betreuung versuche, zu lösen.

Wenn die Ganztagesschule in diesem Sinne ausgerichtet werde, so dürfe sie nicht nur eine zusätzliche Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag bieten, sondern müsse umfassender und nachhaltiger dort einsetzen, wo Eltern eine Betreuung nicht leisten könnten.

Abschließend kamen die Diskussionsteilnehmerinnen und –teilnehmer zu dem Ergebnis, dass die Chancen, aus Erfurt zu lernen, immens groß seien. Die vielfältigen Ursachen möglicher Verzweiflungstaten sollten aber allzu kurzsichtige und nur die Symptome bekämpfende Mittel vermeiden helfen.