"Kinder und Eltern müssen
funktionieren!"
Diskussionsplenum über Ursachen, Folgen
und Prävention nach Erfurt
Im Rahmen eines Fachgesprächs diskutierten Prof.
Dr. Detlef Berg, Professor für pädagogische Psychologie, Petra
Münzel, MdL Bündnis 90/Die Grünen, und Heinz Jung,
stellvertretender Vorsitzender der GEW (Gewerkschaft für Erziehung
und Wissenschaft) in Oberfranken über die Frage, welche Schlüsse
man aus den Ereignissen von Erfurt ziehen müsse.
In einem einleitenden Vortrag zeigte Prof. Berg
mögliche Ursachen der Tat von Erfurt auf. Im Zentrum stand dabei
vor allem die Frage, wodurch die in einem solchen
"Amoklauf" hevorbrechende Verzweiflung hervorgerufen
werden könne. Prof. Berg machte deutlich, dass eine einseitige
Erklärung, wie sie in zahlreichen Medien vorgebracht wurde, nicht
hilfreich sei, die tiefer liegenden Ursachen aufzudecken. So könne
neben der Erfahrung von Ungerechtigkeit eine Vielzahl von weiteren
Ursachen denkbar sein, etwa das Fehlen von Zukunftsperspektiven oder
Probleme in der Erziehung in Familie und Schule. Entscheidend sei es
daher, diesen jungen Menschen Bewältigungsstrategien zu vermitteln,
vor allem aber das Gefühl von Selbstachtung. So müsse einer allzu
leistungsorientierten Sichtweise von Schule entgegen getreten
werden. Es sei eben nicht so, dass "der Mensch erst ab dem
Gymnasium beginne". Eltern sollten sich von dem zwanghaften
Denken lösen, "die eigenen Kinder müssten, wie man auch
selbst, um jeden Preis funktionieren."
Auch sei es Aufgabe von Eltern und Lehrern, eine
"positive Vorbildwirkung" entwickeln. "Wenn man die
Berichterstattung nach Erfurt betrachtet, muss man sich fragen, ob
Nachahmungstätern hier nicht ein negatives Vorbild vermittelt wird.
Wenn sie denken, dass sie durch eine solche Tat endlich ihre
Probleme einer breiten Öffentlichkeit aufzeigen können, ist der
nächste Schritt absehbar!", so Berg.
Petra Münzel ergänzte diese psychologische
Herangehensweise durch einen Blick auf die politische und
gesellschaftliche Situation, in der Jugendliche heranwüchsen. So
erführen viele junge Menschen in Gesellschaft und Schule einen
Mangel an Bestätigung und Unterstützung. Für
"Sitzenbleiber" etwa werde viel zu wenig getan. "Sie
bleiben mit ihren Problemen häufig alleine", so Münzel.
Heinz Jung ergänzte, dass in unserer Gesellschaft
diese fehlende Kommunikation eine wensentliche Ursache für Probleme
sei. "Wenn das Lehrer-Eltern-Verhältnis über ein
Fünf-Minuten-Gespräch im Jahr nicht hinausgeht, dann sei eine
Lösung möglicher Probleme des jungen Menschen durch gemeinsame
Anstrengungen von allen Seiten nicht denkbar.", so Jung. Doch
dafür benötige man Zeit, zusätzliche Qualifizierungen auf Seiten
der Lehrkräfte, Förderlehrer und Erzieher.
Im weiteren Gespräch wurde deutlich, dass die
Ganztagesschule eine Möglichkeit biete, Jugendliche, die zu wenig
Ansprache hätten, besser zu betreuen und Defizite früher zu
erkennen. Schweden und Finnland hätten gezeigt, dass ein solches
Schulsystem mögliche Probleme Jugendlicher bereits deutlich früher
wahrnehmen könne und zudem durch besondere Betreuung versuche, zu
lösen.
Wenn die Ganztagesschule in diesem Sinne
ausgerichtet werde, so dürfe sie nicht nur eine zusätzliche
Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag bieten, sondern müsse
umfassender und nachhaltiger dort einsetzen, wo Eltern eine
Betreuung nicht leisten könnten.
Abschließend kamen die Diskussionsteilnehmerinnen
und –teilnehmer zu dem Ergebnis, dass die Chancen, aus Erfurt zu
lernen, immens groß seien. Die vielfältigen Ursachen möglicher
Verzweiflungstaten sollten aber allzu kurzsichtige und nur die
Symptome bekämpfende Mittel vermeiden helfen.
|